Über die Schulbank hinaus

Warum? Wofür brauch’ ich das?

Ahh, meine Lieblingsfrage! Ich wäre ja nicht Fritzi, wenn ich nicht sofort eine passende Antwort darauf wüsste.

An diesem ganz normalen Tag, von dem ich erzählen möchte, war das aber doch irgendwie anders.

Die Frage eines meiner Lernkinder zu dem Thema Mathe und den ganzen verwirrenden Buchstaben und Ziffern, den langen Reihen … ihr kennt das! Wofür brauche ich das? Mein Lernkind – nennen wir ihn einmal stellvertretend „Tom“ – sitzt müde und verzweifelt vor einer solchen Matheformel. x, y a – Sollte er nicht rechnen? Glaubt es oder nicht: Der innere Aufstand, weil es einfach nicht in seinen Kopf wollte, warum nun Buchstaben als Stellvertreter einer Zahl zu werten seien, treibt den Jungen in einen ernst zu nehmenden Zustand der Verzweiflung. Gefolgt von tiefer Hoffnungslosigkeit und gekrönt durch Bockigkeit, stellt Tom eine mutige Behauptung in den Raum: „Die in der Schule machen das mit Absicht – die wollen mich nur quälen!“

Ich gebe es offen zu:

Eine wunderbare Situation, denn in dieser Stimmung des Kindes ist es offen und ich kann Ruhe und Zuversicht geben. Und – JA, ich gebe es offen zu – auf diese tiefe Emotion habe ich gehofft, weil jetzt ein Gespräch über das Wesentliche mit dem Kind stattfinden kann. Gemeinsam nutzen wir diesen Moment und Mathematik ist für uns beide eine hochemotionale Angelegenheit, die aber einen gemeinsamen Zugang zum Lernen an sich öffnet.

Tom zu beruhigen, ist in diesem Moment keine leichte Aufgabe. Zumindest geht er nicht völlig verzweifelt nach Hause.

Mich begleitet diese starke Emotion, auf dem Heimweg. Mir wird mehr denn je bewusst, wie häufig ich dieses „Wozu brauche ich das“ als Frage tatsächlich höre. Sinnvolle und kluge Sätze darauf zu antworten ist dann doch etwas anderes, als wirklich eine Antwort zu haben. Tom hat mich voll erwischt! Weniger mit dem WAS er gesagt hat, sondern WIE er es gesagt hat.

Der erleuchtende Gedanke

Im Gehen kommt dann der Gedanke, der zumindest für einen Moment mein Einverständnis hat.

Die Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang stellt, ist: Wie sehe ich Schule? Sehe ich Schule als Muss, als Qual, als notwendiges Übel, wird die Antwort auf das Warum und wofür immer negativ ausfallen.

Also eine Frage der Haltung – oder der Sichtweise. Wenn ich mich aber traue, die Perspektive zu verändern, dann habe ich eine große Chance, positive Antworten zu finden.

Konkret für mein Erlebnis mit Tom, denn seine Welt hat ihm in seiner Perspektive und seiner persönlichen Erfahrung zu seiner ganz eignen Wahrheit geführt. So fühlt es sich für ihn an – so ist es zuerst anzunehmen, um ihm eine Wahl anzubieten. Mein erleuchtender Gedanke ist folgender: Vertrauen!

Tom einzuladen, darauf zu vertrauen, dass sich der Sinn hinter dem Wissen von ganz allein in seinem Leben ergeben wird, denn – Hand aufs Herz – wissen wir Erwachsenen wirklich immer, wozu das gut ist, was wir gerade tun? Nein, natürlich nicht.

Ein anderes Kind – ein anderer Zugang – ein Pendant

Die kleine Yun, sie ist eine Forscherin und auch ein Lernkind bei LIP, hat mir eine Idee gegeben.Yun nimmt einfach jede Aufgabe als ein Geschenk – so sehr neugierig ist sie. Bei ihr ist es eher so, dass es ihr vollständig egal ist, warum und wozu etwas gut ist. Sie will einfach alles wissen. Sie ist ein WIE-Kind. Auch, weil sie eben dieses Grundvertrauen hat, dass sich alles schon von selbst fügen wird.

Yun hat eine andere Herausforderung. Oft ist sie schon bei der nächsten Idee und abgelenkt, bevor sie eine Aufgabe zu Ende gebracht hat und vergisst etwas – verliert sich in der Neugier. Ihr hilft die Struktur und die Anleitung sehr.

Und Yun hat gelernt, dass Kinder eben sehr unterschiedliche Fähigkeiten haben und dass die Welt eben so ist wie sie ist. Und auch, dass das so ok ist!

Diese beiden Charaktere nebeneinander zu stellen und wirklich zu gucken, welches Motiv hinter dem Geschehen steht, bringt mich dann zu meinem Ergebnis:

Tom braucht den Sinn hinter den Dingen – Yun will die Ordnung. Dann können beide auf ihre Weise richtig gut sein.

Kann es dann eine allumfassende Antwort geben? Nein. Wie soll ein Grundschüler wissen, wofür er tatsächlich das erworbene Wissen braucht. Einem Schüler der oberen Klassen kann es ähnlich gehen. Solange die grundsätzliche Haltung nicht berechtigt, positiv ist, wird es schwierig Zugang zu dem Lernwillen des Kindes zu finden.

Aber Schule bietet uns die Chance, uns auszuprobieren. Ich lerne viele Sachen kennen, von denen ich einige wirklich gerne mag, andere furchtbar finde. Ich kann lernen, mich dennoch mit diesem „furchtbaren“ Stoff auseinanderzusetzen. So kann ich auf eine Entdeckungsreise gehen und erfahren, dass es gar nicht so schlimm ist. Vielleicht versteckt sich ja tatsächlich etwas für mich Spannendes in dem Thema!

Und diese Erfahrung, zu wissen, was ich mag und kann und zu wissen, was ich nicht mag und nicht so gut kann, ist wesentlich für die eigene Entwicklung. Ich brauche Schule nicht nur zum Pauken von Fachwissen, vielmehr brauche ich Schule zum Lernen, wie Lernen funktioniert.

Ich weiß, das ist ein Ideal. Ich weiß, dass das nicht immer funktioniert. Aber es ist es wert, zu erreichen. Und die Veränderung beginnt bei jedem von uns.

Also, völlig egal, wofür ich konkret die linearen Funktionen brauche. Herzlichen Glückwunsch, dass ich sie kennenlernen durfte. Wichtig ist, was nebenbei vertieft wurde. Wichtig ist, sich mit dem Thema offen und angstfrei auseinanderzusetzen und daran zu wachsen. Dazu braucht es zuerst Vertrauen – und zwar zu sich selbst.

Sicher wollt ihr wissen, wie die Geschichte mit Tom weiter geht!

Bei unserem nächsten Treffen stelle ich ihm also die Frage: „Wie geht es dir heute mit Mathe?“

Tom guckt noch immer sehr skeptisch, denn die ganzen Buchstaben kommen ihm fehl am Platz vor. Aber er ist bereit, die Tricks kennenzulernen, die Ordnung in das für ihn noch herrschende Chaos bringen.